Waldland-Karibu – Auf Messers Schneide

Waldland-Karibu der Tonquin-Herde

Gerade zur Weihnachtszeit finden Karibu ihren Weg in unsere Aufmerksamkeit. „Rudolph, the Red Nose Raindeer“ fliegt mit dem Nordwind über die Dächer der verschneiten Häuser, in denen heimelig ein Kaminfeuer knistert. Doch wie lange noch? Rudolph selbst hat ein Geheimnis und Rudolph’s Geschwister sind vom Aussterben bedroht.

Die zirkumpolare Art der Rentiere hat zu kämpfen, aber anders als man auf den ersten Blick denkt.

      1. Die Wanderung
      2. Das Morden
      3. Das Refugium
      4. Die Letzten ihrer Art
      5. Recht & Ordnung
      6. Ohnegleichen
      7. Tourenvorschlag
Selkirk Range
Schluchtatige Gebirgskette der Selkirk-Range westlich der kanadischen Rockies.

Die Wanderung

Fliegen wir gedanklich selbst durch die Lüfte, über den Atlantik, in die zerklüfteten Höhen der Kanadischen Rocky Mountains. Hier lebt eine Unterart der Rentiere (Rangifer Tarandus)– in Nordamerika Karibu genannt – die Woodland Caribou (Waldland-Karibu). In kleinen Splittergruppen zerstreut, streifen sie im Wechsel der Jahreszeiten entlang der Ranges von seichten Tälern in winterliche Höhenlagen.

Es sind keine extensiven Migrationsrouten, wie sie ihre berühmten Verwandten der Porcupine-Herde im Norden zurücklegen. Auf die lokalen Gebirgszüge begrenzt, ziehen sie im frühen Winter in die Talebenen, wenn der weiche Schnee die Höhenlagen tief bedeckt. Sobald der Schnee dort trittfest geworden ist, wandern sie im tiefsten Winter wieder bergauf. Fortan ernähren Sie sich ausschließlich von Flechten, die auf mächtigen, uralten Bäumen wachsen (arboreal lichens), wie dem Hexenhaar (Alectoria sarmentosa, Witch‘s Hair) oder Usnea (Usnea, Old Men’s Beard).

Um diese Jahreszeit zieht es niemanden in diese klirrend kalte, unwirtliche Landschaft. Oder doch? Legendärer tiefer Puderschnee an steilen Abhängen in atemberaubender Landschaft: ein Traum für Ski-Enthusiasten. Helis und Cat-Mobile machen diese Rückzugszonen zugänglich – für alle. Mit verhängnisvollen Konsequenzen.

In diesen atemberaubenden schneereichen  Höhenlagen findet man auch das farbenprächtige Naturschauspiel des Blutschnees – verborgene Lebenswelten.

Zur Zeit der Schneeschmelze wandern die Karibu kurzzeitig hinab in niedrigere Gefilde, um an die fleischigen Pflanzen zu gelangen. Ab Mai/Juni geht’s zum ungestörten Kalben wieder hinauf in die unwirtlicheren Regionen.

Das Morden

Doch halt. In den letzten Jahrzehnten werden sie selbst dorthin verfolgt. Vom zugleich bewunderten und gefürchteten Räuber, der auch in unsere Breiten zurückkehrt. Dem Wolf. Er folgt ihnen nicht nur, er ist auch für unzählige Tötungen des rapide schrumpfenden Bestandes der Caribou verantwortlich. Neben Bären, Pumas und Vielfraßen, die ebenfalls ab und an Karibu erbeuten.

So musste die Provinzregierung Albertas zu drastischen Maßnahmen greifen, um die zarten Geschöpfe, die ihre Augenfarbe mit den Jahrszeiten wechseln, zu schützen.

Seit 2003 stehen die südlichen Mountain-Caribou – ein Ökotyp der Woodland-Caribou – im Canada’s Species ar Risk Act (SARA) auf der Liste der bedrohten Arten. Dieses Bundesgesetz verpflichtet die Zentralregierung und Provinzregierungen dazu, sogenannte Wiederbelebungs-Strategien (Recovery Strategies) binnen 4 Jahren nach Auflistung der jeweiligen Art in dieser Kategorie zu erstellen. Die Strategiepapiere sind entscheidend, da sie „kritisches Habitat“ (critical habitat), die Ziele des Lebensraumes, Bedrohungen für Überleben der Art und des Habitats identifizieren.

Sollte der Umweltminister die Meinung vertreten, dass das festgelegte kritische Habitat auf Staats- und Provinzterritorien nicht geschützt wird, muss er dem Kabinett empfehlen, eine Anordnung zum Schutz dessen vor Zerstörung zu erlassen.

Im Winter 2005/6 begann das große Wolfsmorden in Alberta. Die Jäger wurden zu Gejagten. Erschießungen aus der Luft und Strychnin-Vergiftung durch Köder sind die Mittel.

Temperate Rainforest Inland in British Columbia
Temperierter Regenwald im Landesinneren.

Das Refugium

Im Jahr 2014 erschien ein bedeutender Artikel, in dem Wissenschaftler bekundeten, dass sich die Herden der Symboltiere Albertas zwar stabilisiert, aber bei weitem nicht erholt hatten. Im gleichen Jahr wurde die National Southern Mountain Woodland Caribou Recovery Strategy erlassen. 11 Jahre nach Auflistung als bedrohte Art.

Die Tiere, die das große Massensterben der Eiszeit im Pleistozän überlebten, an denen Mastodon, Eiszeitkamele, Mammut und viele andere zugrunde gegangen waren, stehen nun am Rande ihrer Existenz. Tiere, deren Lufteinlagerungen im Fell sie nicht nur in bis zu -60 Grad Celsius klirrend kalten Sphären warmhält, sondern ihnen auch die Fähigkeit verleiht, über mehrere Kilometer schwimmen zu können. Tiere, deren Augenfarbe im prallen Licht des Sommers golden leuchten. Karibu.

Wolfsmord als Bekämpfung der Symptome statt der Ursache?

Wie kommt es, dass Fressfeinde plötzlich vermehrt Beute angreifen, die sie vorher nicht im Visier hatten?

So, wie wir es auch tun würden. Sie machen es sich einfach.

Wanderführer Kanadische Rocky Mountains von Verena Schmidt, Autorin mehrerer Bücher beim Bergverlag Rother
Wanderführer Kanadische Rocky Mountains

Der bisherige Vorteil der Waldland- und Berg-Karibu lag in ihrer Besetzung der räumlichen Nische – eines unwirtlichen und unzugänglichen Lebensraumes. Unter anderem an den westlichen Hängen der Rockies, Selkirks, Purcell Ranges regnet es massiv. So entstand in den Niederungen die weltweit einzigartige Ökozone des Temperierten Regenwaldes im Inland. In den eisigen Höhen fällt dafür im Winter gaaanz viel Pulverschnee.

Klingt nach phantastischem Bushwhaking – für viele Outdoor-Enthusiasten ein abenteuerlicher Zeitvertreib. Tiefer Schnee – bei genügend Festigkeit für die Hufe der Karibu kein Problem. Sie sind breit, lassen sich weit spreizen und sind weich. So sinken sie nicht ein. Scharfe Kanten und ausgebildete Afterklauen hinten am Huf geben ihnen Halt im Gestein. So können sie hoch hinauf.

Kälte ist auch kein Problem. Die deutlich vergrößerte Oberfläche in den Nasenlöchern erwärmt die eingeatmete Luft, so dass sie angenehm temperiert in die Lungen dringt.

In den Tälern verstreuen sie sich im wirklich schier undurchdringlichen Dickicht des Regenwaldes, mit seinem Igelkraftwurz (Oplopanax horridus, Devil’s Club) und morschen Unterholz – wahrlich kein Vergnügen für Mensch und kurzbeinige Tiere sich dort ohne angelegte Wege fortzubewegen.

Waldland-Karibu sind bestens angepasst an die Nische.

Woodland-Caribou
Waldland-Karibus verschwinden aus den Gebirgen Westkanadas.

Die Letzten ihrer Art

„Es ist denkbar, dass die Gründe für das Überleben oder Aussterben bestimmter Gruppen nichts mit den Darwinschen Grundlagen des Erfolgs in normalen Zeiten zu tun haben. Fische mögen noch so vollkommen an das Leben im Wasser angepasst sein – wenn die Seen austrocknen, kommen sie alle um.“ Stephen Jay Gold in seinem revolutionären Werk „Zufall Mensch“ (1991; Hanser Verlag; S. 46).

Im Falle der Berg- und Waldland-Karibu trocknet kein See aus. Die Unzugänglichkeit schwindet. Straßen dringen tief in ihre Rückzugsgebiete ein. Die Folgen fädeln sich ähnlich einer Perlenkette auf.

Alte Wälder, in denen struppige haarlange Flechten an Jahrhunderte alten Thujen und dickstämmigen Hemlocktannen hängen, von denen ausgewachsene Karibu bis zu 2kg pro Tag benötigen, fallen Kettensägen und der Gier zum Opfer. Holzwege führen zum Rodungsgebiet.

Industrieanlagen zum Abbau von Erzen, Öl und weiteren Ressourcen entstehen, inklusive Zufahrtsgebieten. Outdoor-Ressorts und Ski-Anlagen ploppen in wunderbar „remoten“ und wildnatürlichen Regionen auf. Mehr Zufahrtswege.

Die Durchquerung unzugänglicher Gebiete raubt selbst den wildesten Geschöpfen reichlich Energie, vor allem im Winter. Tiere nutzen mit Vergnügen Straßen, Wege, Pfade. Ihr habt sie alle schon gesehen im Gebirge, die vielen schmalen Spuren der Gemsen an kieseligen Geröllhängen.

An Straßenrändern und Freiflächen gedeihen Weiden und Büsche. Leckereien für Hirsche, Wapitis und Elche. Sie dringen vor und bringen ihre Fressfeinde gleich im Schlepptau mit. Sommer wie Winter. Im Winter dringen Heli- und Snow-Cat-Skiiers, Snowmobile-FahrerInnen in ihr Refugium ein, scheuchen sie auf – sie verlieren Energie und finden keine mehr zum Auftanken. Die Flechten entschwanden mit den alten Wäldern.

Kurzum: Verlust des Lebensraumes, Verdrängung und Jäger. Hinzu kommen Klimawandel mit weniger Niederschlägen (weniger Schnee, leichtere Zugänglichkeit) und zunehmenden Waldbränden.

Wald- und Wildbrände gehören zum Leben dazu, wie die Luft zum Atmen. Jedoch die Intensität verändert sich. Mehr dazu in Feuer – Spektakuläres Changemanagement in 6 Phasen.

Im Herbst 2020 bekundete Parks Canada, dass kein Tier der Maligne-Herde seit 2018 mehr gesichtet worden ist – sie gilt als ausgestorben. 1998 zählten die Biologen noch 68 Tiere, 2005 waren es weniger als 5 Weibchen mit insgesamt 10 Tieren. Eine Population mit weniger als 10 Weibchen gilt als funktional ausgerottet.

Die südlicheren Herden des Jasper Nationalparks haben beide nicht genügend Weibchen zur Arterhaltung: die Tonquin-Herde wird auf 45 Tiere geschätzt, die Brazeau-Herde auf weniger als 15 insgesamt. Die am Nordrand des Jasper-Nationalparks lokalisierte, teilweise migrierende À La Pêche-Herde besteht aus ca. 150 Exemplaren.

Vor 25 Jahren streiften über 800 Karibu durch den Jasper Nationalpark, heute sind es weniger als 220. Im Banff Nationalpark starben Karibu im Jahr 2009 aus, als die letzten 5 durch eine Lawine nahe Molar Creek nördlich von Lake Louise zu Tode kamen.

Waldland-Karibu gelten als ökologische und kulturelle Ikonen der Wälder Albertas – etwa 3.500 Tiere leben noch in der Provinz.

Igelwurz
Stachelige Igelwurz bilden mit abgestorbenen Pflanzenteilen ein fast undurchdringliches Dickicht.

Recht & Ordnung

2019 rief die Regierung Albertas Task-Force-Einheiten ins Leben, die Vorschläge für Landnutzungspläne und Maßnahmen ausarbeiten sollten. Im Januar des gleichen Jahres stellte Ecojustice im Namen verschiedener Naturschutzorganisationen beim Nationalen Gerichtshof den Antrag, den Umweltminister zu zwingen, 5 Herden unter die Notfallschutzverordnung (emergency protection order) zu stellen.

2020 unterzeichneten die Bundesregierung gemeinsam mit der Provinzregierung einen „Caribou conservation plan“, womit Alberta einer gesetzlichen Anordnung des SARA entging. Ecojustice konnte ihren Antrag zurückziehen.

Bereits seit 1985 gelten Caribou im Alberta’s Wildlife Act als bedroht. 1986 gab es bereits den ersten Woodland Caribou Provincial Restoration Plan. Was also ist zu erwarten?

Das Agreement beinhaltet u.a. folgende Verpflichtungen:

    1. Landnutzungspläne zu erstellen, die Karibu-Habitat unterstützen und wiederherstellen
    2. Populationstrends zu beobachten und Mechanismen zu entwickeln, die Öl-, Gas- und Forstprojekte mit Caribou-Bestandserholung in Einklang bringen,
    3. Finanzierung für die Ausführung der Strategie zur Verfügung zu stellen (Kostenauflistung wird 2021 erwartet),
    4. Innerhalb von 5 Jahren Verbreitungsgebiets-Pläne bestimmter einzelner Herden zu erstellen, die das geforderte Minimum von 65% ungestörtem Habitat festsetzen,
    5. Innerhalb von 10 Jahren Management-Pläne für alle Waldland-Karibu-Populationen zu erstellen.

Die Provinz Alberta verspricht, für alle Waldland-Karibu innerhalb ihres territorialen Zuständigkeitsbereiches  den natürlichen Selbsterhaltungsstatus innerhalb der nächsten 50 – 100 Jahren zu erreichen.

Umweltverbände loben das Abkommen, sind zugleich aber skeptisch bzgl. der Erhaltung aktuell intakter Habitate und der geringen Regulierungsmacht hinsichtlich der Deadlines. Im Abkommen liegt großes Potential gepaart mit bedenklichen Schlupflöchern, so Carolyn Campbell, Naturschutzspezialistin der Alberta Wilderness Association (AWA).

Waldland-Karibu der Tonquin Herde
Waldland-Karibu der Tonquin-Herde.

Ohnegleichen

Caribou, dessen Wort von den kanadischen Mi’kmaq „Qalipu“ stammt, wurden in Nordamerika nie domestiziert. Sie waren so zahlreich vorhanden, dass auch menschliche Räuber ihren Fährten folgten, sich Fleisch, Haut, Fell und Knochen und damit das Überleben Jahrhundertelang sichern konnten.

Die als Feinschmecker bekannten Huftiere leben in kargen Regionen, abseits von Milch und Honig-Flüssen. Sie bevorzugen jedoch im Gegensatz zu Elchen und Wapiti zarte, schmackhafte Kost: Im Frühling grasen sie an Arnika, Weidenzweigen oder Kreuzkraut; Flechten sind ihre Leibspeise im Winter. Dort heranzukommen erfordert Geschick. Und darin liegt die Ursache des Geheimnisses von Rudolph.

Doch was können wir tun, um seine einzigartigen Brüder und Schwestern in den südlichen Verbreitungsgebieten zu schützen?

  • Winterliche Outdooraktivitäten abseits von Karibu-Lebensräumen genießen
  • Beschränkungen der Parkbehörden einhalten.
  • Im Frühling auf den Highways die Geschwindigkeit auf 70km/h drosseln
  • Hunde bei Wanderungen im Caribou-Land Zuhause lassen
  • Richtlinien bei Drohnenflügen kennen und einhalten
  • Lokale Umweltorganisationen unterstützen, wie bspw. Echoconservation, Canadian Parks and Wilderness Society oder Alberta Wilderness Association.

Und immer gilt: Know before you go -informiert Euch bei wichtigen Anlaufstellen und Websites für Wanderungen in Westkanada.

Karibu sind schützenswert. Und das nicht nur, weil sie die einzige Hirschart sind, bei der auch Weibchen ein Geweih tragen. Dieses Geweih brauchen sie, um auch im harten Winter genügend Nahrung für sich und ihr noch ungeborenes Kalb zu sichern. Sie werfen es im Frühling oder frühen Sommer ab, im Gegensatz zu den Männchen. Nach der Paarungszeit im Herbst benötigen sie es nicht mehr und werfen es ab.

Und das noch vor Weihnachten.

Tonquin-Valley
Die weite Hochebene des Tonquin Valleys.

Tourenvorschlag

Die Tonquin-Herde lebt in der Ebene des gleichnamigen Tales (Tour 48). Mit etwas Glück trifft man einige der Tiere in der Nähe der Campingplätze am Tonquin Lake, vor denen sich die Raubtiere scheuen (Tour 48 im Wanderführer Kanadische Rocky Mountains).

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Bärentatze - Zeichnung der Illustratorin Analena Schmidt für das Buch Zwei Sommer in den Rockies