9 Gletscher in den Kanadischen Rockies: Richtung Süden führt uns die Reise nun vom Columbia Icefield entlang des Icefield Parkways. Unzählige Gletscher fließen der Traumstraße Westkanadas entgegen, mal weit leuchtend sichtbar, mal scheu versteckt hinter Bergkuppen verborgen.
Sie knarren und singen, legen verborgene Schätze und vergangene Welten frei, formen und gestalten die Landschaft, ziehen uns Menschen magisch an und verschwinden auf plätschernden Sohlen.
Die Entdeckungsreise zu den 3×3 Gletschern im Herzen der Kanadischen Rocky Mountains geht weiter.
5. Saskatchewan Glacier – Under Cover
6. Bow Glacier – Musik
7. Crowfoot Glacier – Formation
8. Stanley Glacier – Fossilien
9. Assiniboine Glacier – Ikone
5. Saskatchewan Glacier – Under cover
Aus einer Eisfläche größer als Malta – dem Columbia Icefield – entspringt einer der längsten Auslassgletscher der Kanadischen Rockies. Die schwindende 11 km lange Gletscherzunge bildet den versiegenden Urquell des knapp 1300 km langen North Saskatchewan Rivers. Der Gletscher schmilzt mit einer Geschwindigkeit von 25-30 m pro Jahr, langsamer als der Columbia Gletscher. Über ein Viertel der Gletscherfläche Albertas schwand bereits zwischen 1985 und 2005.
Längst ist eine Befahrung des Eises mit schwerem Gerät nicht mehr möglich. So wie 1942, als die dort stationierte US-Truppe in der Hitze des Zweiten Weltkrieges die Gletscherzunge zu Trainingszwecken mit schweren Fahrzeugen befuhr. Nach Verlassen des Camps im Folgejahr baute die kanadische Armee ein Trainingscamp für ihre Mannschaft, die Lovat Scouts. Nach Abzug allen Militärs übernahm der kanadische Alpenverein – Alpine Club of Canada – das baufällige Gelände und errichtete eine Hütte für AlpinistInnen.
Und nicht nur Outdoor-Enthusiasten zog das verborgene Tal an, auch Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre sammelten Forscher Daten über die Fließeigenschaften, Abflusshöhe und die Geometrie des Ablaufs. Attestiert wurde der Eiszunge damals „konstante Unausgeglichenheit“ des Verhaltens. Der Saskatchewan Glacier ist somit der erste Gletscher der westlichen Hemisphäre, von dem diese Art Daten erhoben worden sind – ein Pionier.
Ein halbes Jahrhundert später richteten Dendrochronologen ihre Augen und Messgeräte auf das, was die Gletscherzunge schmelzend freigab: verwittertes Holz. Anders als beim Robson Glacier wurzelten hier die Stämme noch in der Erde – ein begrabener Wald. Ein uralter Wald, der in den Jahrhunderten zwischen 1.200 – 500 vor unserer Zeitrechnung seine grünen Nadeln gen Himmel streckte. Tannen, Fichten und Kiefern wurden möglicherweise ziemlich rasch vom ausgewaschenen Geröll des herannahenden Gletschers verschüttet, ihre noch herausschauenden Wipfel anschließend vom wachsenden Gletscherstrom geköpft.
Glaziologen und Dendrochronologen, da dürfen auch Speläologen nicht fehlen! Noch ein verborgener Schatz in der Nähe des Gletschers: die längste und eine der anspruchsvollsten Höhlen Kanadas liegt in unmittelbarer Nähe. Nur mit Permit ausgestattet und einer über 10 Stunden langen Ski-Anfahrt gelangt man zur Castleguard Cave. Aufgrund der Überflutungsgefahr im Sommer ist ein mehrtägiger Besuch des Höhlensystems nur im Winter möglich.
Und etwa eine Woche benötigt man, will man den über 20 km langen, erforschten Teil erkunden, der in einem einzigartigen Eisstopfen mündet, dem Gletscher aus dem angrenzenden Tal. Nichts ist einfach in dieser Höhle. Einen Blick in den Berg und die damit verbundene Mühsal schenken uns die Dokumentarfilme aus dem Jahr 1973 von Derek Ford & Sid Perou (Link zur Doku auf Youtube) sowie 40 Jahre später von Mark Vokáč (Link zur Doku auf Youtube).
Filme sind eine Art, Abgelegenes, Verborgenes ans Licht und ins Bewusstsein von uns Menschen zu bringen. Akustik und eine krachende Idee sind eine Andere.
6. Bow Glacier – Musik
Die Gletscher schmelzen. Jajaaaa, das wissen wir ja. Und stellen es stets mit Erstaunen fest, wenn wir mal wieder an einem vorbeikommen. In der Regel im Urlaub, manchmal sehr selten.
Doch das Geschehen ist nah und permanent. Unaufhörlich. Fortwährend. Immerzu.
Und unüberhörbar.
Die Klänge des schmelzenden Herzens vom Bow Gletscher werden von der dauerhaften Akustik-Installation „Sounding the Bow“ (Herald/Harbinger) seit 2018 direkt nach Calgary übertragen. Inmitten der am schnellsten wachsenden Stadt Kanadas verschafft sich der Gletscher Gehör: 16 Lautsprecher knirschen, knarzen und gurgeln im Rhythmus des tauenden Eises. Im gleichen Takt beleuchten LED-Scheinwerfer die 7000 einzigartigen, von Gletschern geformten Granitblöcke des Brookfield Place. Krass & wunderschön.
Die Installation von Ben Rubin und Jer Thorp überwindet die Distanz von über 200 km Länge in 5 Minuten. Wenn‘s gut läuft, würde man mit dem Auto zweieinhalb Stunden fahren: zuerst mit dem Boot über den Gletschersee, die Headwall hinab, bis zur Num-Ti-Jah-Lodge und dann ab auf den Icefields Parkway nach Calgary. Als Wassertropfen fließt man drei Tage. Ein halber Wassertropfen wird in der Metropole abgefischt und landet im Bauch, in den Zellen und Knochen der Großstädter. Schätzungsweise. Die Moleküle des Gesteins und Wassers der Gletscher strömen in den BewohnerInnen weiter. Und nun auch in ihren Ohren.
Die Sprache der Gletscher kennt viele Ausdruckweisen. Die Deutlichste, ist die Sichtbare.
7. Crowfoot Glacier – Formation
In unmittelbarer Nähe des Bow Lakes prangt der Crowfoot Glacier am gleichnamigen Berghang hoch über dem Icefields Parkway. Doch bevor uns die Gletscherform etwas über die Gestalt der Berge verrät, verdeutlicht der Name unverkennbar die menschliche Geschichte. Gipfel, Seen und Flüsse trugen andere Namen, bevor die weißen europäischen Erkunder sie umbenannten. Die der First Nations.
Der Begriff First Nations wird in Kanada bewusst statt Indianer oder Indigene verwendet. Es sind die ersten Nationen, die in dem Territorium lebten. Heute lebende Nachfahren europäischer oder asiatischer Einwanderer leben ebenfalls seit vielen Generationen vor Ort. Sie sind deshalb auch mittlerweile Eingeborene – im wahrsten Sinne des Wortes.
Zurück zum Namen. Zu First Nations Zeiten hieß die Eisformation Trident Glacier – Dreizack Gletscher. Die vormaligen drei abgehenden „Finger“ erinnerten an die drei Zacken eines Fisch-Speeres. Vom Jagen und Sammeln lebten die First Nations. So wie der Gletscher Wasser spendet, gaben die Fische ihr Leben für das der Menschen. Die vormaligen drei Zacken erinnerten die weißen Erkunder hingegen an den Fuß einer amerikanischen Krähe – häufige Gesellen in der Wildnis. Doch auch diese Zeiten sind vorbei, denn in den 1920er Jahren fiel die senkrechteste Zehe ab. Der Name blieb.
Auch die Ostwinde kehren regelmäßig wieder. Der von ihnen herbeigefegte Schnee wird vom massiven Kliff des Crowfoot Mountain wie ein Schneefang geblockt und sammelt sich direkt unterhalb. Im Schatten des Felsens schmilzt wenig vom angestauten Schnee, so dass mit zunehmender Masse Eis entsteht – ein sogenanntes Eisreservoir oder auch Staugletscher genannt (catchment glacier).
Lässt man den Blick ein kleines Stück höher gleiten, findet man zwei Musterbeispiele an Kargletschern (cirque glacier). Vor allem an sonnenarmen nördlichen und östlichen Bergflanken findet man solche Gletscherformationen in den Rockies. Aufgrund der Kälte und fehlenden Sonneneinstrahlung verwandelt sich der Schnee in Eis. Doch es ist Bewegung im Spiel. Kann das Eis nicht direkt abfließen, wendet es sich rückwärts, dem Berg zu, nach innen ins Gestein. Es schmirgelt Stück für Stück den Felsen aus, wie in einer Rührschüssel.
Sind diese Kesselgletscher klitzeklein, nennt man sie Taschengletscher (poket glacier). Wenn sich an einem Berggipfel zwei Kargletscher in unterschiedliche Richtungen bewegen, entsteht ein Gipfelhorn. Mt. Chephren, Mt. Athabasca oder Mt. Fryatt sind typische Beispiele. Führt der generelle Temperaturanstieg doch zum Schmelzen des Kesseleises, so bleibt die hinterlassene ausgeschürfte Morphologie des Felsens: ein Gebirgskessel, ein Kar.
Schmilzt das Eis, schwindet der Druck, bröckelt das Gestein. Gletscher sind der Kit der Gebirge. Sie halten Berge zusammen. Im Kleinen spüren wir das an Felsabbrüchen im Frühling. Eine gefährliche Zeit, wenn das in Gesteinsritzen festgebackene Eis mit zunehmender Lenzwärme taut. Die Ausdehnung des zerrinnenden Wassers sprengt die Felsen, es kommt zu vermehrtem Steinschlag. In Gebirgen sind große Abbrüche von Bergflanken, massive Erdrutsche und vermehrt austretende Gase bei schneebedeckten Vulkanen längst keine Seltenheit mehr – u.a. Kaukasus, Südalpen Neuseelands, Coast Range in Westkanada.
Sich lösendes Gestein – ein Paradies für GeologInnen. Denn hier liegt verborgen, was früher einmal war. Vor unserer Zeit.
8. Stanley Glacier – Fossilien
Der Rückzug des Stanley Glacier legt die „bedeutendsten tierischen Fossilien der Welt“ frei, die Wirbellosen der Burgess Shale (Stephen J. Gould: Zufall Mensch). Diese die Geologie revolutionierenden Funde wurden erstmals an der Flanke des Mt. Burgess im Yoho Nationalpark entdeckt, später auch im Tal des Mt. Stanley im Kootenay Nationalpark. In einer Art Urknall tauchen auf einmal die meisten Hauptgruppen neuzeitlicher Geschöpfe auf. Die Besonderheiten:
a) Die Weichteile der Tiere sind erhalten. In der Regel werden sonst nur die harten Teile bewahrt – vergleiche die Ammoniten und Ceratiten des europäischen Jura und Muschelkalks.
b) Sie entstammen aus der Zeit der Kambrischen Explosion. Vor etwa 530 Millionen Jahren bestand die Palette der anatomischen Lebensbausteine aus wesentlich mehr Elementen, als dies heute der Fall ist. In den folgenden 500 Millionen Jahren gab es nur noch Variationen der bereits bestehenden Arten und viele sind wieder verschwunden, ähnlich einem Busch, den man trimmt und dabei ein paar Äste vergisst. Die nicht abgeschnittenen Zweige entsprechen der heutigen „Artenvielfalt“.
c) Der Burgess Shale aus der „Stephens formation“ ist die einzig größere uns bekannte erhaltene Weichkörper-Fauna aus dieser Zeit.
Fazit: Die bisher gedachte Geschichte der Evolution vom Einfachen zum Komplexen, von Wenigfalt zu Vielfalt verläuft de facto in umgekehrter Richtung. Die heutigen Arten sind die letzten Verbliebenen einer einst gigantischen Artenvielfalt.
Wer im Tal des Mt. Stanley zum Gletscher hinaufwandert ist angehalten keine Steine mitzunehmen. Geführte geologische Exkursionen werden von Parks Canada angeboten.
Den Gipfel des Stanley Peak (3.155 m) erklomm der damals 62-jährige Edward Whymper mit seinen Guides erstmals im Jahr 1901. Als einer der besten Bergsteiger des „Goldenen Zeitalters des Alpinismus“ in Europa gehörte er auch der Truppe an, die 1865 den ersten tragischen Versuch unternommen, das Matterhorn zu besteigen. Obwohl angedacht, bestieg er nicht das Matterhorn der Kanadischen Rockies: Mt. Assiniboine.
9. Assiniboine Glacier – Ikone
Mount Assiniboine, 3.618 m hoch. Fernab vom Icefields Parkway oder Highway #1: nur erreichbar über Mehrtagesmärsche oder Helikopter. Benannt nach den lokalen First Nations, Mitgliedern der damaligen Sioux Confederation, auch bekannt als Nakota oder Dakota.
Wer über die Täler der Kanadischen Rockies hinaus die Berge um Banff und Lake Louise erklimmt, sieht den schönsten Berg der Rockies wie einen getreuen Begleiter imposant aus dem Gipfelmeer hervorstechen. Und wer per pedes erschöpft den Fuß des legendären Gipfels erreicht, auf einer Bank der paradiesisch gelegenen Lodge die Aussicht am Lake Magog bewundert, kann gar nicht anders, als sich verzaubern zu lassen. Der weiße Gletscher ziert die Flanken der eleganten Ikone wie ein Spitzendeckchen das Blumenstillleben.
Von außen weiß, von Innen blau: die Farben der Gletscher. Weißer Schnee wird durch das Eigengewicht gefrorenen Wassers immer weiter verdichtet. Die mit Luft versetzten Wasserflocken werden so sehr kompressiert, dass das Eis alle Farben absorbiert, mit Ausnahme des blauen Spektrums. So leuchten tiefe Gletscherspalten, verborgene Eishöhlen oder abgebrochene Gletscherzungen in märchenhaftem Blau. Unverdichteter Firn oder frisch gefallener Schnee an der Oberfläche schimmern dagegen weiß.
Und auch hier, im Hochtal des Assiniboine Provinzparks erkennt man deutlich den tropfenden Zahn der Zeit. Die steigende Wärme des Klimas. Den schwindenden Gletscher über dem See. Sichtbarmachung ist das Motto des Mountain Legacy Projects – die größte Sammlung systematisch aufgenommener Bergphotos der Welt.
1886 stand der Chef-Landvermesser Édouard-Gaston Deville vor der herausfordernden Aufgabe, die extensive Berglandschaft des jungen und gigantischen Staates zu kartographieren. In der Methode der Photo-Topographie fand er die Lösung. Die Landvermesser stiegen mit einer speziellen Kamera-Ausrüstung ausgestattet auf Berge und hohes Gelände, um Panoramaaufnahmen für die Ewigkeit auf 6 x 4 inch großen Glasplatten einzufangen. Diese in Kanada entwickelte Verfahrensweise war ein Geschenk für die Zukunft. Ein Schatz von 120.000 Bilder entstand in der Zeit zwischen 1887 und 1957.
Als in den 1990er Jahren die Veränderung der Landschaft im Athabasca-Tal in den wissenschaftlichen Fokus rückte, wurden die alten Bilder wiederentdeckt. Und das Mountain Legacy Project entstand – Wiederfinden der jeweiligen Aufnahmeorte und erneut fotografieren. Bislang wuchs die öffentlich zugängliche Sammlung des Projektes um über 7000 Bilder. Eines davon zeigt meinen Lieblingsberg, Mount Assiniboine.
Und da sind wir, am Ende der Reise zu den Gletschern der kanadischen Rockies und bei uns selbst. In diesem Falle bei mir. Die Region um das Matterhorn Kanadas berührt mich im Inneren. Es weckt Erinnerungen an Freunde, denen ich dort zum ersten Mal begegnete; an eine abgelegene Landschaft, die nicht auf einer Straße erreicht werden kann; an eine Bekanntschaft, die mir Kraft gab, als ich sie dringend brauchte.
Ich weiß nur aus meiner extensiven Erfahrung als Reiseleiterin, dass das Reisen Menschen berührt. Es macht etwas mit uns. Bei allen individuellen Unterschieden bleibt eines immer gleich: wir kommen niemals als der Mensch zurück, als der wir aufgebrochen sind.
Nur das Charisma der wilden Natur, das währt ewig.